Ein Jahr im Kreis
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Mittwoch, 11. November 2015

Altmeister - Ein Jahr im Kreis #13

Respekt vor dem Alter. Das ist eine wichtige Lektion, die einen der Fußball der Kreisklasse lehrt. Wie das sein kann?

Es nützt alle Athletik und Technik nichts, wenn man sie nicht effizient einsetzt. Natürlich lassen sich Bewegungsabläufe wie Ballan- und mitnahmen oder Schusstechnik erlernen und die Voraussetzungen für eine hervorragende Kondition gepaart mit ausreichend Kraft sind wohl nur in einem begrenzten Zeitraum (potentiell) vorhanden, der wohl gefühlt zwischen Mitte und Ende des 3. Lebensjahrzehnts des typischen Freizeitsportlers liegt. Erfahrung kann man dennoch nicht einfach so erlernen.

Im Spitzenfußball werden junge Spieler immer früher reif für die große Fußballbühne, sind mit 18 Jahren bereits hervorragend taktisch geschult und werden Stammspieler in den Teams, deren Spiele man Woche für Woche im Fernsehen verfolgen kann. Mit Ende der 20er beginnt der Stern vieler Profifußballer bereits wieder zu sinken. Die Belastungen eines Leistungssports, der mitunter im 3-Tages-Rhythmus Höchstleistungen abverlangt und in den letzten Jahren deutlich schneller geworden ist, hinterlassen ihre Spuren.

Dieses Verbrauchtsein sucht man im Amateurfußball vergebens. Hier gibt es ihn noch, den 2. oder 3. Frühling erfahrener Fußballer jenseits der 35 oder gar 40. Erfahrung wiegt hier so viel mehr als in der Bundesliga. Wer auf Bezirks- oder Verbandsebene sein fußballerisches Dasein fristete, der kann ein paar Klassen tiefer getrost noch 5-10 Jahre dranhängen. Wenn ich an meine taktische Ausbildung im Jugendbereich zurückdenke, ist das kein Pfund mit dem sich wuchern lässt. Da waren, trotz ansonsten relativ fortschrittlicher Trainingsformen, ein paar Nachmittage vor der Taktiktafel und ein paar einstudierte Spielzüge. Was ich über mannschaftstaktisches Verhalten gelernt habe, habe ich auf dem Platz gelernt. Auf die harte Tour. Ein Grund mehr, der Erfahrung so wichtig macht.

In den eigenen Reihen hatte auch mein Team von Zeit zu Zeit den einen oder anderen Altmeister. Da war Bernd, der 15 Jahre eine Abwehr auf Bezirksebene zusammenhielt, immer am Rande des Abstiegs, aber eben nie abgestiegen. Diese Erfahrungen ließen ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein entstehen. Zu Recht. Bernd kam immer pünktlich, auch wenn er bis kurz vor Anpfiff noch auf dem Bau schuftete. Trotz Kettenrauchens war er mit Mitte 40 noch fitter als ich. Er foulte höchst selten und ging auf dem Platz der gepflegten Konversation nach. Er konnte das Spiel lesen und das ließ er jeden wissen.

Ein nicht enden wollender Schwall an Erläuterungen, Befehlen und Interpretationen ergoß sich über das Spielfeld. Noch im Sprint gab er seinen Mitspielern Anweisungen und setzte seinen Gegenspieler darüber in Kenntnis, was er, also der Gegenspieler, als nächstes tun würde, und was er dagegen unternehmen würde. Bernd war ein Puppenspieler und die restlichen 21 Mann auf dem Platz seine Marionetten. So gern man sich darüber aufregen wollte, man konnte nicht. Bernd lag einfach zu oft richtig. Guter Mann.

Ein anderer "erfahrener Recke" war Silvio. Er stand uns aus beruflichen Gründen selten bis nie zur Verfügung, aber wenn er da war, wurde er bedingungslos aufgestellt. Im Sturm. Ein Mittvierziger. Er war nicht besonders groß und so erzeugte seine Erscheinung auf dem Platz zunächst wenig ehrfürchtige Reaktionen beim Gegner. Was würde der kleine, alte Mann schon ausrichten können. Silvio war auch nicht besonders schnell und seine Puste reichte kaum für 45 Minuten. Auch musste ihm der Ball stets in den Fuß gespielt werden. Laufduelle ging er, verständlicherweise, nur halbherzig an. Wenn man es genau nimmt, war seine beständige unhinterfragte Aufstellung eher eine Respektsbekundung ihm gegenüber. Silvio war dennoch eine Waffe. Er konnte schießen UND er war technisch versiert. Das bedeutet, Silvio war in der Lage, den Ball in der Bewegung und unter Druck anzunehmen, abzuschirmen und einen passablen Torschuss abzugeben. Silvio trat alle Ecken und Freistöße. Er konnte den Ball aus dem Stand ansatzlos gezielt aufs Tor schießen. Das mag sich profan anhören, ist aber eine Gabe, die man nicht oft vorfindet. Sicher, andere sind schneller, aber sie laufen zur falschen Zeit an den falschen Ort, schießen überhastet, sind unkonzentriert. Es ist ein Trauerspiel ein 18-jähriges Sturmtalent seine ersten Schritte im Männerbereich machen zu sehen. Man sieht die Geschwindigkeit, die Technik, die Athletik und fragt sich: warum macht er nichts daraus, wieso wirkt er wie ein Fremdkörper? Silvio hatte Routine und wusste, was zu tun war.

Ähnliches galt für Gerd, der noch ein paar Jahre älter als Silvio war. Noch mit Mitte 50 schnürte er die Fußballschuhe und agierte als Mittelstürmer. Bis zu seinem endgültigen Karriereende hatte es mehrere Rücktritte von Rücktritten gegeben. Die Fußballschuhe waren bereits in der heimischen Garage an die Wand genagelt, der Abschied begossen worden, als doch wieder ein Anruf kam: Wir brauchen dich! Und Gerd war nicht irgendein gealtertes Maskottchen, er war die erste Wahl, wenn es um die Aufstellung des Mittelstürmers ging. Seine fußballerischen Fähigkeiten rückwirkend zu beschreiben, fällt mir schwer. Ich kann mich nur erinnern, dass er immer sein Ding machte. Sein Tor schoss, wenn er den Ball in aussichtsreicher Position bekam - Gerd war ein Knipser. Er machte keine Übersteiger, er musste nicht sprinten. Er wusste, wo er zu stehen hatte, nahm den Ball mit und schoss gezielt in ein Eck. Gerd trat alle Elfmeter. Gerd versenkte alle Elfmeter.

Ein gutes Gefühl, ein paar solcher Fußballer im eigenen Team zu wissen. Ein schlechtes Gefühl, gegen sie antreten zu müssen. Natürlich gab es auch die Notnägel, die alten Fußballer, die vom Mittagstisch weg und auf den Platz geholt wurden. Die Kondition tendierte gegen null, die Bewegungsabläufe wirkten unrund, teilweise kam auch noch eine längst nicht mehr gängige Härte zum Einsatz, die die Altgedienten im fußballerischen Rentenalter nicht ablegen konnten. Diese Spieler waren es nicht, die mich Respekt vorm Alter auf dem Fußballplatz lehrten. Es waren auch nicht einzelne Routiniers, die mich zu dieser Einsicht brachten. Es war ein ganzes Team, pardon, alter Säcke, das mich Demut lehrte. Demut in Anbetracht meines jugendlichen Alters, meiner fehlenden Erfahrung und meiner beschränkten fußballerischen Fähigkeiten.

Symbolbild mit freundlicher Genehmigung von Sasa 1)
Dieses Team setzte sich aus Ü35-Spielern zusammen, die in Ermangelung einer ihrem Alter angemessenen oder ihnen gewachsenen Gegnern in ihrem Alter in unserer Liga antraten. Von außen betrachtet war es ein Klub alter Männer, die ihre besten Tage lange hinter sich hatten. Was sollten sie schon gegen eine demografisch ausgeglichene Mannschaft ausrichten können. Und überhaupt, nach 60 Minuten würde ihnen die Puste ausgehen. Bei der ersten Begegnung mit dieser Mannschaft überlegten die Jungspunde in unseren Reihen jedes Mal, welch einfach Ding es wäre, an den lahmen, unbeweglichen, leicht übergewichtigen Altherren vorbeizuschweben und ein paar Tore zu schießen. Jeder 18-jährige, der neu zu uns stieß und mit leuchtenden Augen die trägen alten Männer beim Aufwärmen beobachtete, musste die bittere Erfahrung machen, dass sich Vorstellung und Realität in keinster Weise deckten.  

Abgekochte, technisch beschlagene und ehrgeizige Ex-Bezirkliga-Spieler belehrten sie eines Besseren. Jedes einzelne Mal. Auf dem Papier sahen die Ansetzungen harmlos aus. Das Team firmierte als 3. oder 4. Vertretung der Herrenmannschaft. Hinterlistige Tarnung. Die Spiele glichen einer Demonstrationsveranstaltung: seht her, so wird Fußball gespielt. Jeder Pass fand den Weg zum Mitspieler, viel gelaufen mit Ball wurde eh nicht. Direktes Passspiel, Doppelpässe, kontrollierter Spielaufbau, taktische Disziplin, mit Bedacht vorgetragene Spielzüge. Das hört sich nach einer schönen Herausforderung im Ligatrott, einer anspruchsvollen Aufgabe, an. Es war der gottverdammte Mount Everest!

Kein Kraut war gegen diese Typen gewachsen. Hohe Bälle auf die Stürmer bolzen - mit der Erfahrung und dem Stellungsspiel mehrerer tausend Kopfballduelle wurde alles routiniert weggeköpft. Die Verteidigung aggressiv stören und Fehler erzwingen - die alten Herren lächelten müde über unsere Bemühungen und ließen das Bällchen laufen. Sich zurückziehen und die Angriffe der Grauen Panther abwarten - sie kombinierten sich schnell und geschmeidig durchs Mittelfeld, keine Chance ein Bein dazwischen zu stellen. Auch das Konditionsargument zog nicht: den alten Männern wird doch irgendwann einfach die Puste ausgehen? Falsch gedacht! Die durchtrainierten Sportsmänner verfügten über eine passable Ausdauer - nach 60 Minuten ausgepumpt waren stattdessen: wir. Das ewige Hinterherlaufen ließ die Beine schnell müde werden. Es gab keinen Plan, nicht mal einen hypothetischen, wie dieser Gegner zu bezwingen war.

So waren die Spiele meistens kein Vergnügen. Sie entbehrten jeglicher Spannung und es herrschte eine gewisse Apathie in unseren Reihen. Den letzten, vor dem Spiel zusammengekratzten, Mut nahm einem meist die Altherrenauswahl mit dem ersten Treffer. Danach ließ man nur noch laufen. Die Rentnertruppe dominierte das Geschehen auf dem Platz  nach Belieben. An die Wand gespielt von einem Haufen ergrauter, dickbäuchiger Onkeltypen. Eine Demütigung. Ehrgeiz war in einem solchen Spiel fehl am Platze. Versuch gar nicht erst dich anzustrengen. Du kannst noch so schnell bei und eng an deinem Gegenspieler sein - er findet den Weg an dir vorbei - eine Körpertäuschung, ein leichtes Antippen des Balles, ein zentimetergenaues Abspiel - alles genau so getaktet, dass du immer einen Schritt zu spät kommst. Es hatte keinen Sinn und es sah lächerlich aus, von einem Team mit einem Altersschnitt jenseits der 35 an die Wand gespielt zu werden.

Aber wie gesagt, diese Spiele lehrten mich, auf was es im Fußball außer Kraft und Ausdauer noch ankommt. Erfahrung und Technik in perfekter Symbiose konnte man mit Kampf und Schnelligkeit nicht aufholen. Für mich selbst wusste ich, dass ich nie in die erfahrungstechnischen Sphären dieser Typen vorstoßen würde. Ich würde einfach nur langsamer und behäbiger werden bei nur leicht verbesserten Erfahrungswerten. Ich würde kein “erfahrener Recke” werden. Ich würde später mal einer von diesen alternden Notnägeln sein, die man telefonisch 15 Minuten vor Abfahrt zum Auswärtsspiel beim Tabellenersten vom Mittagstisch weglotsen würde.

Auch in der Saison, um die es hier geht, hatten wir beide Spiele an die Oldies abgeschenkt. Sie durch aggressives Spiel zu reizen, weckte nur noch mehr Ehrgeiz und implizierte eine schmerzhaftere Niederlage. Wenn man ein solches Spiel wie einen Altherrenkick anging und dann 1:4 verlor, war das allemal ein besseres Gefühl, als sich die Seele aus dem Leib rennend, sechs Tore eingeschenkt zu bekommen.

Wie es aber immer so ist und was vor allem den Fußball so spannend macht: Der Reiz liegt nicht im Alltäglichen sondern im Außergewöhnlichen. Je öfter man das Gleiche auf dem Platz erlebt und sieht, desto exotischer und spannender sind die Momente, die vom Gewöhnlichen und der Norm abweichen. Das fängt bei einem Tor, einem schnöden Punktgewinn, an. Das Nonplusultra sind Außenseitersiege. In meinem begrenzten Kreisklassenfußbalkosmos war das Nonplusultra kein Sieg gegen Real Madrid sondern ein achtbares Ergebnis gegen die Altherren-Auswahl zu erzielen.

Es war in unserer legendären Aufstiegssaison, in der wir über einen Kader verfügten, der stets mit Spielern der 1. Mannschaft verstärkt wurde. Spiel um Spiel wurde gewonnen, teilweise in überlegener Manier. Sogar von mir selbst konnte ich damals behaupten, eine gute Runde gespielt zu haben - das muss das Selbstvertrauen oder “der Lauf” sein von dem die Küchenpsychologen im Doppelpass immer reden. Die Altmeister waren dennoch ein Prüfstein. Je mehr man sie herausforderte, desto mehr waren sie zu leisten im Stande. In der Regel spielten sie mit angezogener Handbremse - man will sich ja nicht verausgaben an seinem freien Nachmittag.

Wir verlangten ihnen in unserer Aufstiegssaison alles ab. Ich kann mich nicht an viele Siege und die dazugehörigen Spielverläufe lebhaft erinnern, aber dieses Spiel gehört definitiv dazu. Das vorentscheidende 3:1 war ein wunderschön vorgetragener Konter, den ich, kurz zuvor ausgewechselt, von draußen beobachtete. Ich verspüre selten bei einem Kreisklassenspiel ekstatische Freude oder verfalle gar in Siegestaumel. Aber dieses Tor, dieser Sieg gegen die alten Männer hatte einen besonderen Wert. Man merkte, sie hatten alles in die Waagschale geworfen und es hatte nicht gereicht. Wir hatten die Rentnertruppe besiegt. Die damit verbundene überschwängliche Freude war vor allem der Einmaligkeit des Ereignisses geschuldet.

Es sollte niemals danach wieder etwas gegen dieses Team zu holen geben. Bei jedem Aufeinandertreffen erhielt ich einen Auffrischungskurs in Sachen Respekt vor dem Alter. Die Niederlage in der hier beschriebenen Saison passte perfekt in eine Phase, die sich als Frühjahrsapathie umschreiben lässt: Ergebnisse sind egal, an der Tabellensituation ändert sich in den verbleibenden Spielen eh nur noch wenig. Die zum Leben erwachende Natur kontrastierend, befindet man sich in einem ignoranten Dämmerzustand, was den Ausgang der Partien betrifft. Nur noch die letzten paar Spiele über die Runden bekommen, denkt man sich.

Was einen motiviert und die Stimmung ein bisschen aufhellt, ist die Erinnerung an Spiele, die einen besonderen Ausgang nahmen:

“Weißt du noch, damals, als wir die alten Männer besiegt haben?”  



1) Sasa ist Groundhopper und stellt auf seinem Blog seine Bilder aus den Stadien Serbiens vor - die Veröffentlichung hier erfolgt mit seiner Genehmigung - vielen Dank!

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